Aurore

Stéphane Mandelbaum, MMK Tower, Frankfurt

Ich will Dir einen Namen geben. Und eine Geschichte. 

Wie würde Dir Aurore gefallen? Ein zartes Rosé, das sich auf kalte, undurchdringliche Nachtschwärze legt. Ein Schleier, der die ersten Morgenstrahlen fängt. Eine Schiebetüre, mit Japanpapier bespannt, die sich Zentimeter um Zentimeter öffnet. Dahinter verborgen sind Freude, Licht, Glück, Heimat. 

Wachablösung. Nächte reihen sich aneinander. Tage existieren lange nicht mehr. Purpurrot gefärbtes Neonlicht verhöhnt die Morgenröte. Der nächste Freier wartet. Kein Schleier, keine Schiebetüre schützt Dich vor seinem gefräßigen Blick. Ein fensterloser Raum, eine Matratze. Rechts davon die Neonleuchte. Links die Blechschüssel mit dem Wasserkrug.  Der Mann mustert Dich. Die stickige Hitze und sein Begehren lassen ihn keuchen. Das schmutzige Hemd schweißnass. Mittelalt ist er, fett und hässlich. Sein steifes Glied ragt aus der aufgeknöpften Hose. Wortlos drückt er Dich auf die Unterlage, entleert sich in Dir. Du drehst den Kopf zur Seite, schaust mich an. Gleichgültig. 

Ich will nicht warten, bis er fertig ist. Will ihm ein Messer in seinen plumpen Arsch rammen. Ihn mit meiner ganzen Kraft von Dir ziehen. Er blutet, das fette Schwein. Ich will Dich befreien. Dich rächen. Ihm die Eier abschneiden. Ihn bis zur Bewusstlosigkeit prügeln. 

Aurore! Ich werde Dich in ein weiches, helles Kleid aus feinem Musselin hüllen. Dich füttern, pflegen, Dich bemuttern. Die verfilzten Haare entwirren und jede einzelne Strähne mit Lavendelöl tränken. Die Kratzer und Narben mit zarten Küssen heilen.

Nein. Nichts davon wird geschehen. Die Morgenröte darf sich nicht zeigen. Neue Freier werden Deinen ausgemergelten Körper benutzen, schänden. Achtlos. Mandelbaum wird einen leeren Raum zeichnen. Fensterlos. Mit einer blutdurchtränkten Matratze und einem umgeworfenen Wasserkrug. In der rot gefärbten Wasserlache wird man einen abgetrennten Penis erkennen. 

Zu: Stéphane Mandelbaum, MMK Tower. 24.06.2022

Published by: Silbensammlerin

Gebürtige Schwäbin, Wahlfrankfurterin und Neuberlinerin, Entwicklungshelferin für Menschen, Teams und Organisationen. Zu neuen Ufern reisen, Menschen berühren, mich berühren lassen. Formen, Farben, Gerüche aufspüren. Speisen schmecken, Silben sammeln, mit Worten spielen, schreiben, slammen, Abseitiges entdecken. Neugierig bleiben.

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