Der letzte Tannenbaum

Die Holzkiste ist leer, bis auf eine Handvoll vertrockneter Tannennadeln. Kein Baum mehr da. Er hätte jeden genommen, zu jedem Preis. Auch den kleinen mit Schlagseite nach links, den sein Nachbar von unten vor sich hergetragen hat, als er das Haus verlassen wollte. Fast wäre er mit dem Kerl zusammengestoßen. Auf sein „frohe Weihnachten, Herr Mangold“ hatte er nichts erwidert. Er mag ihn nicht, diesen komischen Typ. Mit seinen vielen Tattoos und den riesigen Knöpfen, die seine Ohrläppchen nach unten hängen lassen. Und den Ringen in der rechten Augenbraue. Er ist ihm unheimlich. Ein bisschen fürchtet er sich sogar vor ihm. Seine Frau sagt, dass er Jim heißt. Und ein guter Junge ist, der es nicht leicht hat. Mit seiner Mutter und den vielen Geschwistern. Und dass er ihr schon oft die Taschen nach oben getragen hat. So ist sie, seine Maria, nie misstrauisch. Glaubt immer an das Gute und lächelt ihn morgens an, wenn sie mit ihren zitternden Händen die Kaffeebecher auf den Tisch stellt und dabei die Hälfte verschüttet. Selbst jetzt noch. Mit wackeligen Beinen stützt er sich auf seinen Rollator und starrt in die leere Kiste. Er will ihr ein letztes Weihnachtsfest schenken. Genauso wie sie es immer gefeiert haben. „Zelebriert“, so nennt es Maria. Sie will Weihnachten zelebrieren. Ein reich geschmückter Baum mit echten Kerzen, der das kleine Wohnzimmer in sanftes Licht taucht und die kargen, abgenutzten Möbel fast gemütlich erscheinen lässt, ist ihr dabei das Wichtigste.  Und nun kann er ihr noch nicht einmal diesen Wunsch erfüllen. 

Schon am Tag nach Neujahr wird der Sohn kommen und sie ins Heim bringen. Er hat es für sie ausgesucht und wird es auch bezahlen. „Du schaffst das nicht mehr allein mit Mutti“, hatte er gesagt, „kannst dich ja selbst nicht mehr richtig auf den Beinen“ halten. Er versucht dankbar zu sein für diese „beste Lösung für uns alle“. Es gelingt ihm nicht. Er spürt nur Leere, Groll, Wut. Wenigstens diese Weihnachten hätte er kommen können mit Judith, seiner Frau, und den Enkeln. „Wir sehen uns ja dann im neuen Jahr“, war die knappe Antwort auf seine Bitte, die ihm schwergefallen war. Und nun das letzte Weihnachtsfest in der Wohnung -ohne Baum und mit Essen auf Rädern. Er ist zu spät losgegangen. Bis zu Rewe wird er nicht mehr schaffen. Noch immer fällt es ihm schwer zu akzeptieren, dass er mit dem Rollator viel länger braucht als zuvor. Nun ist es so. Vielleicht sogar besser. Maria wird ihm keine Vorwürfe machen. „Wir machen es uns trotzdem schön“ wird sie sagen und ihn anlächeln. Aber er weiß es besser, kann ihre Enttäuschung hinter dem Lächeln sehen. Ihre Traurigkeit, die ihn so schmerzt, als ob sich spitze Nadeln in seine Haut bohren. Noch langsamer macht er sich auf den Heimweg, um diesen Moment solange es geht hinauszuzögern. Als er den Rollator im muffigen Treppenhaus abstellt, öffnet sich die Tür im Erdgeschoß. Jim steht vor ihm mit dem kleinen Baum. „Hallo Herr Mangold, brauchen Sie vielleicht noch einen Tannenbaum? Meine Mutter hat schon einen besorgt und zwei Bäume sind einer zu viel“. Seine Stimme klingt freundlich, sein Lächeln gleicht dem seiner Frau. „Ich bringe ihn gerne hoch, haben sie einen Baumständer? Kann ich ihnen auch geben“. Er nickt. Würgt ein „Dankeschön, das ist sehr nett von Ihnen“ heraus. Spürt, wie sich etwas Warmes in seinem ganzen Körper ausbreitet. Ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr zulassen wollte. „Klar doch, Herr Mangold, Ehrensache.“ 

Zusammen steigen sie die Treppe hoch. 

Published by: Silbensammlerin

Gebürtige Schwäbin, Wahlfrankfurterin und Neuberlinerin, Entwicklungshelferin für Menschen, Teams und Organisationen. Zu neuen Ufern reisen, Menschen berühren, mich berühren lassen. Formen, Farben, Gerüche aufspüren. Speisen schmecken, Silben sammeln, mit Worten spielen, schreiben, slammen, Abseitiges entdecken. Neugierig bleiben.

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